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Newsletter mit starken Texten von Jürg Vollmer

Mein «Countryside»-Newsletter führt Sie in das Spannungsfeld zwischen Landwirtschaft und Gesellschaft, Ökonomie und Ökologie (und zwischendurch auch mal in die USA).
Amische und Mennoniten in Indiana (USA): Bauern zwischen Bibel und Babylon

Amische und Mennoniten in Indiana (USA): Bauern zwischen Bibel und Babylon

Text & Bild: Jürg Vollmer

In den USA und Kanada betreiben Glaubensgemeinschaften der Täufer bis heute eine Landwirtschaft wie vor 300 Jahren. Es sind Amische, Hutterer und Mennoniten, deren Vorfahren nach dem 16. Jahrhundert aus der Schweiz und Deutschland emigriert sind.

Nur 200 Kilometer östlich vom Sündenpfuhl Chicago, wo in einigen Stadtvierteln Drogen und Waffen leichter erhältlich sind als gesundes Essen, produzieren Täufer die beste Milch sowie Gemüse und Brot wie vor über 300 Jahren.

Während die halbe Welt wie das alte Babylon in Krieg, Lügen und Elend zu versinken droht, pflegen 100’000 Täufer um die Städte Shipshewana und Goshen die biblischen Werte ihrer Vorfahren: Mennoniten und Amische, die vor der Verfolgung aus Deutschland und der Schweiz geflüchtet sind. Sie tragen bis heute Schweizer Familiennamen wie Hostettler, Joder, König, Läderach, Stutzmann und Wenger.

Scheinbare Unabhängigkeit von moderner Technologie

Die meisten Täufer haben weder Telefon im Haus noch Anschluss an das öffentliche Elektrizitätsnetz. Stattdessen erzeugen Diesel-Generatoren «unabhängigen» Strom. Kühlschrank, Kochherd, Ofen und Lampen werden mit Gas betrieben.

Diese scheinbare Unabhängigkeit von moderner Technologie kann man belächeln. «Aber so verhindern wir auch die Zerstörung von Hunderten von Landwirtschaftsbetrieben», erklärt ein amischer Landwirt.

«Südlich von Shipshewana wird im Tagbau Kohle abgebaut für Kraftwerke. Der Tagbau zerstört lokale Landwirtschaftsbetriebe und die Kohle-Kraftwerke stossen Schwefeloxide aus, die als saurer Regen unsere Felder, Wälder und Seen vergiften.»

Die meisten Amischen und Mennoniten sind Landwirte

Die Landwirtschaft spielt im Leben der Täufer-Gemeinschaften eine zentrale Rolle – als Kern ihrer Selbstversorgung und ihrer kulturellen Identität. Über 90 Prozent der Amischen und ein Grossteil der Mennoniten in den USA sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Sie wirtschaften mit traditionellen Anbaumethoden in den Betriebszweigen:

  • Getreide: Mais, Weizen, Hafer, Gerste (als Grundnahrungsmittel für ihre Gemeinschaften)
  • Gemüse und Obst: Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln, Karotten, Kürbisse, Äpfel, Pfirsiche und Beeren (für den Eigenverbrauch, Überschüsse werden oft auf lokalen Märkten verkauft)
  • Viehzucht: Rinder für Fleisch und Milch, Schweine und Geflügel, aber auch Schafe oder Ziegen (für den Eigenverbrauch und für den Verkauf auf lokalen Märkten, wo die Produkte für ihre Qualität geschätzt werden)

Die Täufer haben traditionell nur so viel Land, wie sie mit ihrer Familie bewirtschaften können. Rund 30 Hektaren können Vater und Sohn mit ihren Pferden problemlos bearbeiten.

Denn Täufer verzichten auch in der Landwirtschaft auf moderne Technik. Die Bindung zwischen Mensch und Tier spielt eine entscheidende Rolle in ihrer Lebensphilosophie. Genauso wie die Landwirtschaft, zu der Mennoniten und Amische eine lange und tiefe Verbindung haben:

  • Sie betrachten sich als Hüter der Schöpfung und die Landwirtschaft als eine Berufung. Ackerland zu bebauen und zu bewahren ist für sie eine religiöse Verpflichtung.
  • Deshalb geben sie die landwirtschaftliche Lebensweise von Generation zu Generation weiter.
  • Die Landwirtschaft ist für den Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft von grosser Bedeutung.
  • Mit der Landwirtschaft können die Täufer ihre Familien ernähren und gleichzeitig wirtschaftlich unabhängig leben.

Die Mennoniten-Familie Weaver lebt zwischen zwei Welten

Die Mer-Su Dairy Farm ist nach ihren Besitzern Merlin (42) und Susanna (42) Weaver benannt, welche die Farm mit 39 Hektaren 2007 kauften. Merlin ist in vierter Generation Farmer. «Ich bin in der Mennoniten-Gemeinschaft hier in Goshen aufgewachsen, in der die Landwirtschaft einfach zum Leben gehört.»

Die Farm ist ein für Mennoniten typischer Landwirtschafts-Betrieb. So wie Merlin und Susanna Weaver mit sieben Kindern zwischen zwanzig und vier Jahren eine typische Mennoniten-Familie sind.

Die beiden ältesten Söhne Laverne (17) und Eric (10) arbeiten voll auf dem Landwirtschafts-Betrieb mit.

Als einziges Kind arbeitet Tochter Lynelle (20) nicht auf dem Landwirtschafts-Betrieb der Familie. Die junge Frau ist Layouterin und Fotografin in einem nahe gelegenen Versandhaus, wo sie Kataloge gestaltet.

Im Freilauf-Stall der Mer-Su Dairy Farm stehen 240 Holsteiner Milchkühe. Daneben halten sie in einem zweiten Freilauf-Stall noch 120 trocken gestellte Kühe und Rinder.

Die Kühe bekommen eine Futtermischung (TMR) aus Mais-Silage, Heu, gemahlenem Mais, Baumwoll-Körnern sowie Sojaschrot und Sojaschalen. Ausser Baumwoll-Körnern, Sojaschrot und Sojaschalen wird alles auf dem eigenen Betrieb angebaut. Diese TMR wird täglich mit rund5 Kilo Kraftfutter pro Kuh ergänzt.

Für ihre Milch bekommen die Landwirte nur 35 Rappen pro Kilo

2013 installierte Merlin Weaver vier Lely-Melkroboter, die elektrisch angetrieben werden. «Früher haben wir die Kühe drei Mal pro Tag gemolken. Mit den Melkrobotern kommen die Kühe selbst 2,3 Mal pro Tag zum Melken. Wir haben mit den Melkrobotern weniger Arbeit, die wir für die Feldarbeiten nutzen, und trotzdem haben wir mehr Milch», erklärt der Farmer.

Die 240 Holsteiner Milchkühe geben 12 474 Kilo Milch pro Laktation. Insgesamt produziert die Mer-Su Dairy Farm 3200 Tonnen Milch pro Jahr. Der Produzentenpreis liegt aber nur bei tiefen 35 Rappen pro Kilo Milch.

Die Milch geht an einen Molkerei-Konzern in Fort Wayne, der 120 Kilometer entfernt «normale» amerikanische Trinkmilch produziert.

Die kleine Amish Country Dairy produziert die beste Milch

Ganz anders die Amish Country Dairy in Shipshewana: Der Amische Harry Stutzman jr. (70) störte sich daran, dass er für die Milch seiner Holsteiner Kühe nur einen schlechten Produzentenpreis erhielt und diese zu «normaler» Trinkmilch verarbeitet wurde.

«Die meisten Amerikaner trinken das, was ich meinen Schweinen in den Trog schütte», wundert sich Stutzman jr. Deshalb gründete er 2018 zusammen mit Leon Miller aus Goshen sowie Lamar Kuhn und John Schwartz aus Bremen die Amish County Dairy LLC.

Die vier Farmer und dreissig lokalen Investoren bauten ohne Banken und ohne staatliche Unterstützung für 750 000 Dollar eine moderne Milchverarbeitungsanlage auf Stutzmans Farm in Shipshewana. Zwei Dieselgeneratoren liefern den Strom.

Seit November 2020 verarbeitet und vermarktet die Amish Country Dairy ihre eigene Premium-Vollmilch. Nach drei Jahren beliefert sie über 220 Geschäfte in sieben US-Bundesstaaten.

Eine 4,7 dl-Flasche Vollmilch kostet in den Geschäften 3.50 Dollar, umgerechnet 3 Franken. Mit Billig-Milch von Molkerei-Giganten wie Walmart und Meijer oder mit der nur 100 Kilometer entfernten Fair Oaks Farms mit deren 50 000 Holsteiner Milchkühen kann die Amish Country Dairy preislich natürlich nicht konkurrieren, das weiss Harry Stutzman jr.

Die Konsumenten bezahlen aber gerne mehr für natürliche Vollmilch, die besser schmeckt und keine Zutaten wie Carrageen (siehe Kasten S. 91) enthält, die Stutzman mit dem lautmalerischen Begriff «gobbledygook» für Unsinn beschreibt.

Die Amish-Milch mit Kaffee wurde an der World Dairy Expo ausgezeichnet

«Mit den billigen Verkaufspreisen dieser Konzerne können und wollen wir nicht konkurrieren. Aber wir können sie mit dem besseren Geschmack unserer Vollmilch schlagen», erzählt Harry Stutzman jr.

Seine Milch mit Kaffee wurde 2022 sogar an der World Dairy Expo ausgezeichnet, immerhin die grösste Milch-Fachmesse der Welt. Heute produziert die Amish Country Dairy sieben Sorten Vollmilch als Mischgetränk: Ganzjährig mit Ahornsirup aus lokaler Produktion, Kaffee oder Schokolade, ja sogar Karamell/Meersalz – im Sommer auch mit lokal angebauten Blaubeeren, Erdbeeren und Pfirsichen (mit jeweils 22 Prozent Fruchtanteil).

Drei Jahre nach der Eröffnung produziert die Amish Country Dairy täglich über 2000 Kilo Milch, 750 Tonnen Vollmilch pro Jahr. Weitere 850 Tonnen werden extern an eine Milch-Genossenschaft weiter gegeben.

Die Pferdegespanne der Amischen heissen bis heute «Wäggli»

Themenwechsel. Als nach 1900 die ersten Autos über die Strassen holperten, erschraken die Täufer. Denn damit konnte man den Kontrollbereich der Gemeinschaft verlassen. Zudem war das Auto ein Statussymbol. Also verboten die Täufer die Benzinwagen und blieben bei ihren Pferdewagen.

Die flott trabenden Pferdegespanne gehören bis heute zum Strassenbild der Kleinstadt Shipshewana. Wenn die Amischen von ihren «Wäggli» reden, hört man den Schweizer Dialekt heraus. Fachlich korrekt handelt es sich dabei um einen Buggy, einen leichten, einspännigen Pferdewagen.

Mit dem «Wäggli» fahren die Amischen zum sonntäglichen Gottesdienst, aber auch zum lokalen Supermarkt. Und mit grossen Pferdewagen transportieren sie landwirtschaftliche Produkte und sogar Grossvieh.

Die schwarzen Buggys fahren auf Stahlreifen ohne Gummi-Pneus. Wenn man genau hinschaut, entdeckt man aber, dass die Bescheidenheit der Amischen auch ihre Grenzen hat: Neue «Wäggli» sind aus Fiberglas, haben eine Propangas-Heizung und unzerbrechliche Plexiglas-Scheiben.

Im Innern der Buggys kann man ein «Armaturenbrett» für die Lichter und Blinker erkennen. Die Elektrik wird mit Batterien aus dem Baumarkt gespiesen. Weil die nur gerade zwei, drei Stunden halten, werden auf längeren Fahrten Reservebatterien mitgeführt.

Gebremst werden die «Wäggli» oft mit alten Trommelbremsen oder einfachen Scheibenbremsen aus Schrottautos. Diese sind ideal für die leichten Kutschen, kosten nichts und halten lange. Zudem fallen sie nicht sehr auf – es muss ja nicht jeder die moderne Technik sehen.

Zum 16. Geburtstag bekommen die meisten US-amerikanischen Kids ein Auto geschenkt. Analog dazu bekommen die jungen amischen Männer einen Buggy mit Pferd – die jungen amischen Frauen erwartet stattdessen Küche, Kirche, Kinder.

Ein neuer Buggy kostet 5000 Dollar, mit den erwähnten «Bequemlichkeiten» schnell einmal 8000 Dollar. Dafür hält das «Wäggli» aber auch dreissig Jahre, mit mehrmaliger Renovation sogar fünfzig Jahre und länger.

Die Landwirtschaft der Amischen nutzt die Pferde anstelle von Traktoren als Zugtiere

Die Arbeitspferde bestimmen auch das Familienleben der amischen Bauernfamilien. Auf dem Feld tränken und füttern sie in der Mittagspause zuerst ihre Pferde, dann isst die Familie gemeinsam zu Mittag.

«Während sich die Pferde ausruhen, ist auch für uns Zeit für den Mittagsschlaf», erzählt ein amischer Landwirt und fügt lachend hinzu: «Und weil Gott keine Pferde mit Scheinwerfern geschaffen hat, arbeiten wir nicht in der Nacht.»

Zum Einsatz kommen verschiedene Kaltblut-Pferderassen, die mit ihrer Kraft und Ausdauer für die Feldarbeit und den Transport geeignet sind:

  • Brabanter (Belgisches Kaltblut) sind Kraftpakete mit sanftem Charakter und mit ihrer Bereitschaft zu harter Arbeit ideal für die Feldarbeit und das Ziehen schwerer Ausrüstung.
  • Percheron sind stark, intelligent und anpassungsfähig. Mit ihren ausgezeichneten Fahreigenschaften spannen sie die Amischen vor den Buggy.
  • Clydesdale sind mit ihrem ausgeglichenen und willigen Charakter als exzellente Zugpferde geschätzt.
  • American Standardbred (Amerikanische Traber) sind zwar keine Kaltblut-Pferderasse. Mit ihrem ruhigen Temperament setzen sie die Amischen für leichtere landwirtschaftliche Arbeiten ein – und spannen sie gerne vor den Buggy.

Für die Landwirtschaft haben die Amischen die Geschirre und Ackergeräte für ihre Pferde über vier Jahrhunderte ständig weiterentwickelt. Dabei stand neben der Funktionalität das Tierwohl immer im Vordergrund. Das Resultat ist eine auf Pferdekraft basierende, nachhaltige Landwirtschaft, die auch im technisierten und digitalisierten 21. Jahrhundert rentabel ist.

Die amischen Landwirte bewirtschaften im Unterschied zu anderen US-Farmern Fruchtfolgeflächen

Im Unterschied zu den meisten anderen US-Farmern arbeiten die Amischen mit einer traditionellen Fruchtfolge im Fünfjahres-Turnus:

  • Mais
  • Hafer
  • Mischkultur Weizen & Leguminosen
  • Wiese (für Heu und als Weide)
  • Wiese (für Heu und als Weide)

Die amischen Landwirte düngen mit dem Mist ihrer Rinder und sie nutzen möglichst biologische Schädlingsbekämpfungs-Methoden, um die Ökosysteme ihrer Felder zu schützen.

In solchen Details zeigt sich, dass die Landwirtschaft bei den Amischen nicht nur auf die ökonomische Nachhaltigkeit ausgerichtet ist, sondern auch auf die ökologische und soziale Nachhaltigkeit.

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